Pizzicato

Dan Ettinger, Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker ist zurzeit einer der aktivsten und auffälligsten Dirigenten. Das liegt nicht nur an seinem Markenzeichen – der Sturmfrisur – sondern vor allem an seinen interessanten Projekten, bei denen immer wieder Repertoire abseits des Mainstreams auf das Programm der Stuttgarter Philharmoniker gelangt. Ettinger hat sein Stuttgarter Orchester auf ein hervorragendes Niveau gebracht und hat eine ausgezeichnete Klangkultur entwickelt, die sich aktuell in einem Zyklus von Werken Tchaikovskys und Rachmaninovs äußert, der sukzessive beim Label Hänssler Classic erscheint. Im Interview mit Dan Ettinger hat ihn René Brinkmann zu seinem allgemeinen Werdegang ebenso befragt wie zu konkreten Projekten der jüngsten Zeit.

Herr Ettinger, schaut man auf Ihre Biografie, so fällt auf, dass Ihnen offenbar der Dirigierstab nicht in die Wiege gelegt wurde: Sie begannen als Pianist und als Bariton. Wie kam es dazu, dass Sie ins Dirigierfach wechselten?

Schon als Kind hat mir mein Vater auf meinen Wunsch Taktstöcke der Marke Hamel von seinen Geschäftsreisen aus Deutschland mitgebracht, von denen ich einen bis heute benutze. Ich kann mich erinnern, dass ich vor dem Spiegel ‘dirigiert’ und sogar die Rituale eines Konzertes mit Auf- und Abtritt simuliert habe. Dieses Kinderspiel war eigentlich mein noch unbewusster Wunschtraum, lange bevor ich erfahren habe, was das Leben für mich bereithält.

Zuerst begann ich mit dem Klavierspiel, im Gymnasium kam dann der Kontrabass hinzu. Aber erst, als ich meine Stimme entdeckt und begonnen habe, in Chören und als Solist zu singen, ist mir bewusst geworden, wie stark das Dirigieren schon immer im Hinterkopf präsent war. Beim Einstudieren einer neuen Partie und auch beim Musizieren selbst hatte ich immer den großen Blick eines Dirigenten. All meine späteren Erfahrungen als professioneller Sänger auf der Bühne, Korrepetitor, Cembalist im Orchestergraben, Bühnenmusik- und Chorleiter haben mich zu dem Dirigenten gemacht, der ich heute bin. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich. Oft scheint es einfacher, durch den Gewinn eines Wettbewerbs und entsprechende PR zum Star zu werden, ohne vorher genügend Erfahrungen gesammelt zu haben. Die Praxis als Musiker und überhaupt das Wissen über Kunst, Geschichte und Literatur, all das gehört zum Hintergrund einer Dirigentenkarriere mit neuen faszinierenden Herausforderungen. Meine begann, als mir die Israeli Opera die Stelle des Chordirektors angeboten hat, und nicht nur das: außerdem wurde ich Kapellmeister und Assistent des GMD. Für mich war der Wechsel ins Dirigierfach wie von der Natur geplant.

Ihre Karriere als Dirigent begannen Sie Ende der 1990er-Jahre in Israel, vor allem im Opernfach. Welchen Status hat die Oper in Israel? Ist die Publikumszusammensetzung in Bezug auf Alter und gesellschaftliche Schicht vergleichbar mit der in Deutschland?

Seit Beginn meiner Karriere in Israel haben eigentlich die Oper und das symphonische Repertoire einen gleichwertigen Anteil meines künstlerischen Schaffens.

Es gibt nur ein Opernhaus und das ist in Tel Aviv. Obwohl in Israel die Kultur bei weitem nicht so hoch subventioniert ist wie in Deutschland, hat die Oper dennoch einen sehr hohen Stellenwert. Das Publikum ist gemischt und eigentlich so ähnlich wie in Deutschland. Als Music Director der Israeli Opera arbeite ich gemeinsam mit meinem Team nicht nur daran, eine junge Generation israelischer Sängerinnen und Sänger im Opernstudio auszubilden und auf ihre internationale Karriere vorzubereiten, sondern auch neue Generationen unseres Publikums zu gewinnen, und das mit Erfolg!

Wie kamen Sie schließlich in Kontakt mit Daniel Barenboim, der Sie als Kapellmeister und Assistent an die Staatsoper Unter den Linden beschäftigte?

Als ich Erster Gastdirigent des Jerusalem Symphony Orchestra war, hat mich der Aufsichtsratsvorsitzende des Orchesters seinem Freund Daniel Barenboim empfohlen. Wir schickten ein Video nach Berlin, er lud mich ein zu Gesprächen, die wiederum zu einem Vordirigat geführt haben, der Rest ist bekannt. Das, was ich von ihm und seiner Staatskapelle lernen konnte, hätte ich mir nirgendwo anders besser vorstellen können. Er und seine Musik haben für mich bis heute Modellcharakter.

Ein Meilenstein in ihrer bisherigen Karriere war sicherlich der Mannheimer Ring-Zyklus. Wie stehen Sie persönlich zu Richard Wagners Musik? Wagner ist ja herausfordernd gerade durch seine langen Bögen, die er in den Opern schlägt. Wie gelingt es einem, diese stundenlangen, durchkomponierten Opern mit Leben und Spannung zu füllen, in der Balance zu halten?

Obwohl ich als zweite Generation der Holocaust-Überlebenden das Trauma sehr gut kenne und mich damit identifiziere, finde ich es sehr schade und stehe dem sehr kritisch gegenüber, dass bis zum heutigen Tage Wagner in Israel ein Tabu ist.

Wie die israelische Wagner-Gesellschaft vertrete ich die Auffassung, dass man nicht Wagners Weltsicht spielt, sondern seine Musik. In den Klangwelten von Richard Wagner bleibt nichts zu wünschen übrig. Alles steht in der Partitur, aber man braucht genügend Wissen und Erfahrung, mit seiner Struktur, der Orchestrierung, seinem Style umzugehen, um seine Werke sinnvoll zu strukturieren und zu balancieren.

Nicht allen Dirigenten ist es vergönnt, einen ganzen Ring zu machen. Ich hatte das Glück, sogar zwei verschiedene Produktionen zu dirigieren, eine in Mannheim und eine in Tokyo während meiner Zeit als Chief Conductor des Tokyo Philharmonic Orchestra. Die Besonderheit in Mannheim war neben der langen Wagner-Tradition des Orchesters auch und vor allem die Zusammenarbeit mit Achim Freyer, der selbst eine Art Gesamtkunstwerk ist.

Seit 2015 sind Sie Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker, mit denen Sie sich auf CD zurzeit vor allem zwei Komponisten widmen: Tchaikovsky und Rachmaninov. Wie kam es zu der Idee, diese beiden Komponisten einander musikalisch gegenüberzustellen?

Alles begann mit einer Mozart-CD, unsere erste, die bei Hänssler Classic erschienen ist. Von dort kam der Wunsch, einen gemeinsamen Tchaikovsky-Zyklus mit allen Sinfonien zu produzieren. Die Kombination mit den Klavierkonzerten Rachmaninovs war für uns sehr natürlich, da sie eine gute Gelegenheit bietet, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden russischen Komponisten gegenüberzustellen.

Tchaikovsky und Rachmaninov klingt zunächst nach einer gar nicht so naheliegenden Kombination. Wo liegen für Sie die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede im Charakter der Musik beider Komponisten – vom rein chronologischen Abstand einmal abgesehen.

Tchaikovskys und Rachmaninovs musikalische Sprachen sind sich trotz der Unterschiede in der kompositorischen Entwicklung sehr nahe. Beide wissen auf jeweils ihre Art die Farben des Orchesters meisterhaft einzusetzen, lieben den opulenten Klang, chromatisch angereicherte Harmonien, Musik, die aus der Tradition des 19. Jahrhunderts kommt und bei der der Gefühlsausdruck sehr wichtig ist. Vielleicht bei Tchaikovsky emotionaler als bei Rachmaninov, was mit den unterschiedlichen Persönlichkeiten, ihren Lebenserfahrungen und -kämpfen zusammenhängt. Auch inhaltlich treffen sie sich, beispielsweise in der russischen Volksmusik, aber auch in ihrem Fatalismus, im Glauben an so etwas wie ‘höhere Mächte’.

Die Lebenswege von Rachmaninov und Tchaikovsky überschneiden sich um immerhin 20 Jahre und schon im Alter von zehn Jahren hat Rachmaninov im Haus seines Förderers Nikolay Zverev Tchaikovsky vorgespielt. Haben die beiden Komponisten in späteren Jahren irgendwann einmal miteinander kommuniziert oder sich über ihre Musik gegenseitig ausgetauscht?

Rachmaninov hat im Alter von 15 Jahren sein Studium bei Sergej Tanejev in Moskau aufgenommen, der selber Kompositionsstudent Tchaikovskys gewesen ist und dessen Nachfolger am Konservatorium war. Tchaikovsky war dem Konservatorium immer noch verbunden und war u.a. Jurymitglied bei Examina. Als Rachmaninov sich gleich im Jahr seines Studienbeginns einer Zwischenprüfung unterziehen musste, gab ihm Tchaikovsky die Höchstnote 5+ und setzte noch drei Pluszeichen dazu. Von da an hat Tchaikovsky den jungen Mann gefördert und sah ihn als einen seiner kompositorischen Erben an. Er vermittelte 1893 die Uraufführung von Rachmaninoffs erster Oper Aleko ans Bolschoi-Theater. Sein plötzlicher Tod im selben Jahr hat Rachmaninov sehr erschüttert – er schrieb sein zweites Klaviertrio ‘à la memoire d’un grande artiste’.

Wie sind Sie darauf gekommen, dieses russische Repertoire zu einem Schwerpunkt in ihrer Arbeit mit den Stuttgarter Philharmonikern zu machen? Ich habe den Eindruck, dass selbst ein so bekannter Komponist wie Tchaikovsky mit seinen Sinfonien in Deutschland vergleichsweise wenig gespielt wird.

Oft werde ich von russischen Kollegen gefragt, wieso gerade diese Musik für mich so große Selbstverständlichkeit hat. Ich fühle mich bei russischer Musik sehr zu Hause, was sicher auch an den vielen Einwanderern aus Osteuropa nach Israel liegt. So bin ich aufgewachsen, das hat mich geprägt. Die osteuropäische jüdische und die russische Musik haben sich gegenseitig stark beeinflusst. Sie sind sich sehr ähnlich und liegen mir im Blut. Aus meiner Erfahrung sind die Sinfonien von Tchaikovsky in den deutschen Konzertsälen sehr präsent. Auf jeden Fall versuche ich, sie auch mit meinem Orchester, den Stuttgarter Philharmonikern, so viel wie möglich zu spielen und so meine natürliche Beziehung zu dieser Musik mit meinen Musikern gemeinsam weiterzuentwickeln.

Wie würden Sie den Klang der Stuttgarter Philharmoniker beschreiben? In den Aufnahmen bei Hänssler finde ich ihn im Vergleich zwischen Tchaikovsky und Rachmaninov bemerkenswert flexibel. Geradezu faszinierend finde ich die Fähigkeit, in bestimmten Teilen der Kompositionen einen dunkel schattierten, fast verhangenen Klang zu erzeugen, der aber gar nichts Schwerfälliges oder Träges hat, sondern immer genau den ‘Vortrieb’, den diese Musik benötigt. Haben Sie dies mit dem Orchester aktiv erarbeitet oder hören wir hier einfach den Orchesterklang der Stuttgarter?

Für mich entsteht (fast) alles aus dem Klang eines Orchesters: Farben, Gewicht, Phrasierung, Transparenz und mehr. Ich arbeite mit meinem Orchester an einem Klang, der flexibel und so differenziert ist, dass Tchaikovsky und Rachmaninov unterschiedlich klingen, und beispielsweise auch dunkle Momente nicht schwerfällig sind. Wie genau? Es ist ein Austausch zwischen WAS und WIE: meine Ideen, Wünsche und Klangvorstellungen mit den Erfahrungen und Fähigkeiten der Musiker. Dinge wie Bogenstriche, -position, -druck und -geschwindigkeit, Tonlängen, Fingersätze, Artikulation usw. – Hauptsache ein Orchester, das immer ‘singt’ in einem endlosen Klang, dem auch die Stille gehört.

Die Corona-Pandemie lähmt das Kulturleben, dennoch möchte ich Sie nach Ihren Plänen für die nähere Zukunft fragen: Was werden wir in den kommenden Monaten von Dan Ettinger und den Stuttgarter Philharmonikern zu hören bekommen?

Zuallererst hoffen wir natürlich, dass wir bald wieder Konzerte für unser Publikum spielen dürfen. Außerdem wollen wir nach mehrmaliger coronabedingter Verschiebung eines unserer ursprünglich geplanten Programme, Richard Strauss ‘Der Bürger als Edelmann’ und Paul Ben-Haim ‘Myrtle Blossoms from Eden’ für Streaming produzieren. Für unseren Nachwuchs haben wir gerade ‘Peter und der Wolf’ aufgenommen. Auch für Streaming planen wir eine neue Kammermusikreihe, in der ich mit so vielen Kollegen wie möglich musizieren möchte.

Persönlich hoffe ich, so bald wie möglich mein Orchester in Israel wiederzusehen und, dass meine geplanten Debüts im Frühjahr und Sommer im Teatro San Carlo in Neapel stattfinden können.