Eine gemeinsame Sprache entwickeln
Die zweite Spielzeit der Stuttgarter Philharmoniker mit ihrem noch neuen Chefdirigenten hat begonnen, und am Samstag feiert das städtische Orchester ein Jubiläum (Bericht Seite 1). Doppelter Anlass für einen Probenbesuch und ein Gespräch mit Dan Ettinger.
„Wir brauchen eine neue Farbe, bisher ist noch viel Grün und Gelb drin, jetzt muss mehr Schwarz und Grau dazukommen“, sagt Dan Ettinger zu den Musikern. Im Großen Saal des Gustav-SiegleHauses, dort wo sonst das Publikum sitzt, proben sie den Anfang von Berlioz‘ Liedzyklus „Sommernächte“ mit der Mezzosopranistin Rinat Shaham. Ihre Stimme klingt traumhaft schön.
Im ersten Lied ist noch Frühling zu spüren. Dann kommt immer mehr Wehmut hinzu. Der Dirigent ist noch nicht ganz zufrieden mit der Begleitung: „Ich will die innere Verwirrung mehr hören. Hauptstimme ist die Flöte mit der Farbe Klarinette.“ Also noch einmal. Dann das zweite Lied. Ettinger unterbricht wieder: „Es klingt trocken, es ist auch trocken notiert, es soll aber nicht trocken klingen.“
Die Stimmung bei der Probe ist konzentriert, zugleich offen, freundlich. Ettinger sitzt auf seinem hohen Dirigentenhocker vor dem Orchester, aber er redet nicht von oben herab. „Kann ich helfen, gibt es noch Fragen?“ Die gibt es immer wieder, zur Partitur und zur Interpretation. Er erklärt, lässt Einwände gelten, wenn sie ihn überzeugen.
So offen und freundlich ist Dan Ettinger auch beim Gespräch in seinem Arbeitszimmer oben im vierten Stock des denkmalgeschützten Gebäudes, das zurzeit teilweise ein Gerüst umgibt. Die Fenster werden gerade erneuert und Spanplatten versperren den Blick auf die Dächer des Leonhardviertels.
Ettinger führt ein dicht getaktetes Dirigentenleben. Am Montag, 17. Oktober, begannen die Proben mit den Philharmonikern. Am Dienstag dirigierte er die letzte von elf Vorstellungen der „Tosca“ an der Opéra Bastille in Paris. Bereits am Mittwoch setzte er die Berlioz-Proben für den 22. Oktober fort. Gleich danach ging es mit den Vorbereitungen auf das Jubiläumskonzert am 29. Oktober weiter.
Im Juli wurde der Vertrag mit dem Chefdirigenten bis 2023 verlängert. Ettinger möchte „ein musikalisches Zuhause, eine gemeinsame Sprache mit den Philharmonikern entwickeln“. Jetzt, am Anfang der zweiten Spielzeit, ist die Beziehung „immer noch frisch, aber die Basis stabil“
„Sprache“ bedeutet für ihn „Klangbild“. „Wie bekomme ich meinen Ettinger-Klang?“ Es geht um eine Kombination aus Klang und Phrasieren. Dafür gibt es dann eben auch Metaphern wie „Grün“ und „Gelb“ bei dem Lied von Berlioz.
„Das Schöne in der Musik ist, was zwischen den Noten steht.“ Das Verhältnis von Musik und Subtext ist nie eindimensional. „Musik soll immer eine Geschichte erzählen. Und dabei kommt es auf die Energie an, mit der gespielt wird.“ Das kann auch ganz leise sein. „Energie hat nichts mit Lautstärke zu tun.“
Besteht ein Unterschied zwischen dem Aufführen eines reinen Orchesterwerks und dem Begleiten eines Solisten, sei es einer Sängerin wie Rinat Shaham, oder eines Pianisten, Violinisten? „Auch wenn das Orchester alleine spielt, versuche ich zu erreichen, dass alle so spielen, als wenn jeder Musiker den anderen begleitet – wie in der Kammermusik.“ Ein Dirigent könne den Taktstock schlagen und jeder könne das anders interpretieren. „Wirkliches Musizieren kommt vom Zuhören, was und wie der andere spielt“, sagt Ettinger. „Ohne gegenseitiges Vertrauen kann man das nicht beginnen. Aber dieses Vertrauen habe ich schon vor drei Jahren gespürt, bei meinem ersten Konzert mit den Philharmonikern.“ Auch das Stuttgarter Publikum mag er: „Es ist nicht einfach, in so einem Riesensaal mit 2000 Plätzen sich so nah zu fühlen.“
Apropos Kammermusik: Ettingers Instrument ist das Klavier. Die Stuttgarter können ihn auch als Pianisten erleben: Gleich nach dem Jubiläumskonzert zum ersten Mal bei einer Mozart-Matinee mit Blasinstrumenten am Sonntag, 30. Oktober, um 11 Uhr im Gustav-Siegle-Haus.
Mit Klavierspielen hat es angefangen, zuhause in Holon, südlich von Tel Aviv. „Wie alle Kinder habe ich mit fünf, sechs Jahren Klavier gelernt, wie alle habe ich das Klavierüben gehasst“, erzählt Ettinger. Gezwungen wurde er von seinen Eltern nie. Sie waren keine professionellen Musiker, „aber mein Vater hatte eine der größten Jazzplattensammlungen und natürlich auch Klassik“.
Sehr früh war ihm klar: „Ich kann und will nur Musik machen. Nie in meinem Leben habe ich mit etwas anderem als Musik Geld verdient.“ Glücklicherweise musste er nicht zur Armee, sparte so drei Jahre. Nachdem er ein Musikgymnasium besucht hatte, war es ihm auf der Musikakademie langweilig. Er hörte auf, hatte sofort eine Stelle in einem Kammerchor und begann eine Karriere als Solobariton, begleitete parallel Sänger am Klavier, gab Unterricht für Klavier und Gesang an den Universitäten in Tel Aviv und Jerusalem.
Mit fast 30 Jahren wechselte Ettinger zum Dirigat. „Eigentlich habe ich zuhause immer dirigiert, aus Vergnügen“, sagt er lachend und macht es vor. Der damalige Chef der Israelischen Oper holte ihn als Chorleiter und gab ihm eine Chance als Assistent. Ein Freund von Daniel Barenboim und Mitglied im Kuratorium des Jerusalem Symphony Orchestra beobachtete ihn zwei Jahre lang. „Dann kam er und sagte, es sei Zeit, Barenboim ein Video nach Berlin zu schicken.“ Dieser schaute es sich nicht nur an. „Es folgten viele Stunden von Gesprächen, ich bin drei, vier Mal hin- und zurückgeflogen.“ Aber das ist schon wieder eine eigene Geschichte.
Das ständige Hin und Her zwischen den Konzertsälen und Opernhäusern der Welt ist sehr anstrengend. „Das war mit 35 einfacher als jetzt mit 45“, sagt er. „Ich versuche, vorsichtiger zu sein.“ Um Kraft zu tanken, bevor er wieder 100 Prozent gibt, muss er schlafen oder wenigstens richtig abschalten. „Zum Konzert muss ich ganz ‘leer’ kommen.“ Rückzugsort ist seine Wohnung in Mannheim.
Seine Heimat Israel sieht er in den letzten Jahren nur selten. „Ich vermisse meine Familie und meine Freunde.“ Nächstes Jahr dirigiert er an der Israeli Opera. „Sechs Wochen werde ich dort sein können. Meine Eltern freuen sich schon riesig.“
„Heimat“ ist für Dan Ettinger ganz besonders seine Großmutter Erna. „In unserer rumänischen Familie habenalle deutsche Namen. Die väterliche Seite stammt aus Siebenbürgen.“ Die Großmutter hat ihn erzogen, während beide Eltern arbeiteten. „Erna war Schauspielerin und Geigerin.“ Ettinger zeigt ihr Schwarzweißfoto auf seinem Smartphone: eine elegante, selbstbewusst blickende Frau. „Wenn es so etwas wie Talent oder künstlerische Gene gibt, dann habe ich sie von ihr.“