Der Wert des Selbstverständlichen
Es ist bereits die fünfte Konzertsaison von Dan Ettinger mit den Stuttgarter Philharmonikern und es sollen noch einige folgen. Sein Wunsch, mit dem städtischen Orchester eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und hier ein musikalisches Zuhause zu finden, hat sich für den international gefragten Dirigenten erfüllt.
Gerade hat er mit den Philharmonikern in großer Streicherbesetzung Schönbergs „Verklärte Nacht“ am Stück geprobt: „Eine halbe Stunde, aber so intensiv wie ein dreistündiges Konzert.“ Ein wenig ausgepowert, aber gut gelaunt sitzt Dan Ettinger in seinem Zimmer im vierten Stock des Gustav-Siegle-Hauses. Drei Jahre nach unserem ersten Gespräch Ende Oktober 2016, als er seinen Wunsch äußerte, ist er spürbar hier angekommen: „Ja, die gemeinsame Sprache ist gefunden und schon fast selbstverständlich“, sagt er. „Das hat einen enormen Wert für die Arbeit, nicht immer wieder von Null zu beginnen. Und es bedeutet eine große Freude an der gemeinsamen Arbeit.
“Michael Stille, Künstlerischer Intendant der Philharmoniker, und Ettingers Assistentin Kers-
tin Maroke lächeln mehr als zufrieden. Das sind sie auch mit den Abonnentenzahlen, die sich gegen den Trend erfreulich gut entwickelt haben. Bei den aktuellen Programmen fällt auf, dass der Gesang eine große Rolle spielt – allein in den nächsten drei Konzerten mit Bariton Andrè Schuen, dem Tschechisch Philharmonischen Chor Brünn sowie Sopranistin Petra Maria Schnitzer und dem Tenor Peter Seiffert – „eine Jahrhundertstimme“, sind sich alle einig.
Ettinger, in seiner Jugend selbst Bariton, arbeitet gerne mit schönen Stimmen und sieht sie als Bereicherung des Instrumentalen: „Orchestrierte Lieder, egal ob im Original oder für Orchester bearbeitet, haben eine andere musikalische Dimension, eine andere Dynamik und Energie – wie eine Mini-Opernszene.“
Denn auch die Oper ist seine Welt. Ende Februar dirigiert er die Premiere von Massenets „Manon“ an der Opéra national de Paris plus zwölf weitere Aufführungen, im Juni folgt Puccinis „Madame Butterfly“ am Royal Opera House in London und im August Verdis „Aida“ im katalanischen Castell de Peralada – das ist nur eine Auswahl.
Und dann ist er ja noch Chefdirigent des Israel Symphony Orchestra, seit einem Jahr zusätzlich Music Director der Israeli Opera in seiner Heimatstadt Tel Aviv, wo er das Zusammensein mit Familie und Freunden genießt. Und es gibt auch Verbindungen zu Stuttgart: Beethovens Neunte mit der „Ode an die Freude“, die er zum Saisonauftakt in Israel dirigiert hat, führt er hier beim Jahresschlusskonzert auf.
Wie schafft der 48-Jährige dieses enorme Pensum, das ständige Unterwegssein in aller Welt, in verschiedenen Kulturen, Sprachen? Dan Ettinger überlegt ein wenig: „Ich mache einfach, was ich immer mache.“ Da ist er wieder, der Wert des Selbstverständlichen für die Arbeit, auch für die
eigene Entwicklung, Veränderungen inklusive. „Ich stelle zum Beispiel fest, wie anders ich die Bogenstriche in einem Werk heute setze als vor vier oder sechs Jahren.“
Alles also rundum wunderbar? Nicht ganz, die schwere Verletzung seiner rechten Hand im September war „ein richtiger Schock“. Beim Entkernen einer Avocado mit einem scharfen Messer passierte es. Die stark blutende Wunde musste im Krankenhaus genäht werden.
Trotz der Schmerzen eröffnete er die Konzertsaison am 1. Oktober im Beethoven-Saal. Obwohl der Linkshänder wie die meisten Dirigenten den Taktstock sonst rechts hält, musste er nun die Linke nehmen. Das ursprünglich mit ihm als Solist geplante Klavierkonzert von Haydn übernahm kurzfristig der junge Pianist Maximilian Schairer.
„Die Hand ist schon viel besser, Klavierspielen geht allerdings noch nicht wirklich“, sagt Ettinger, ist aber zuversichtlich. Seit der Verletzung nimmt er den kürzeren, leichteren Takt-
stock, der vor ihm liegt. „Den hat mir mein Vater während einer Dienstreise in Deutschland gekauft, als ich zehn Jahre alt war – von der Firma Hamel, die gibt es wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.“
Es bleibt also weiter spannend mit ihm und den Philis. Bei dem Wort „Philis“ schaut er erstaunt. Michael Stille bestätigt, dass man bei der Stadt so sagt. Dan Ettinger ist begeistert: „Das gefällt mir, das ist wie eine Marke.“