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Dan Ettinger gehört zu den international gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Seit Beginn der Spielzeit 2015/2016 ist er Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker und Generalmusikdirektor der Landeshauptstadt Stuttgart. Unter seiner Leitung hat das unter der Trägerschaft der Stadt Stuttgart stehende Orchester nochmals deutlich an Profi l gewonnen. top magazin sprach mit dem gebürtigen Israeli über seine Arbeit und anstehende Projekte.

top: Herr Ettinger, Sie haben mal gesagt, Ihre erste Begegnung mit den Stuttgarter Philharmonikern sei so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen. Was ist so besonders an dieser Beziehung?

Ettinger: Ich wusste, dass die Stuttgarter Philharmoniker auf der Suche nach einem neuen Chefdirigenten waren und dabei auch mich im Visier hatten. Es ist eine schöne Situation, wenn jemand einen braucht, man aber nicht unbedingt wechseln muss. Ich konnte mir also sagen:

Wenn es passt, ist es gut – und wenn nicht, bleibt für mich alles, wie es ist. Wir haben dann ein Vordirigat in Form eines Konzerts vereinbart. Danach war für mich klar: Die Stuttgarter Philharmoniker sind genau das Richtige für mich, vom ersten Moment hat es irgendwie gefunkt. Ich habe den unbedingten Willen der Philharmoniker gespürt, mich als Orchesterchef an ihrer Spitze haben zu wollen. Das war für mich dann auch der Grund, nach sieben Jahren als Generalmusikdirektor das Nationaltheater Mannheim zu verlassen und etwas Neues zu wagen. Genauer gesagt: „mein“ eigenes Symphonieorchester nach meinen musikalischen Vorstellungen zu entwickeln.

top: Wie hat sich das Orchester unter Ihrer Leitung verändert? Woran erkennt man Ihre Handschrift?

Ettinger: Das Orchester hat gemeinsam mit mir einen ganz eigenen Klang entwickelt. Es ist schwierig, diesen Klang zu beschreiben. Deswegen vielleicht nur soviel: Man hört es einfach, wenn die Philharmoniker unter meiner Leitung spielen. Ganz wichtig ist mir, dass die Musikerinnen und Musiker nicht nur auf mich schauen und sich auf mich verlassen, sondern dass sie auch darauf hören, was die Kolleginnen und Kollegen spielen. Mir geht es immer um die musikalische Sprache, die gemeinsam entwickelt werden muss und darauf basiert, dass alle das Stück ähnlich empfi nden. Dazu muss ich als Dirigent das Orchester inspirieren können. Klar spielt auch mein Interpretationsansatz eine wesentliche Rolle. Diesen Ansatz umzusetzen, liegt aber technisch und musikalisch in der Verantwortung des Orchesters. In den letzten vier Spielzeiten ist uns dieser Spagat meines Erachtens sehr gut gelungen.

top: Was unterscheidet die Stuttgarter Philharmoniker etwa vom Sinfonieor-
chester des SWR oder dem Stuttgarter Kammerorchester?

Ettinger: In erster Linie wahrscheinlich die Tatsache, dass ich ursprünglich von der Oper und dem Gesang herkomme. Wenn wir Symphonien spielen, tun wir das immer sehr dramatisch, sehr energisch, sehr bunt und mit viel Charakter. Einfach so, als ob wir eine Oper spielen würden. Was uns auszeichnet, ist sicherlich auch unser hohes Maß an Spontaneität, ohne daraus in eine Routine zu verfallen. Routine darf und wird es bei uns nicht geben.

top: Eine Ihrer prägendsten Mentoren war Daniel Barenboim. Was hat er Ihnen auf
Ihren Weg mitgegeben?

Ettinger: Was ich von ihm während meiner Zeit als Kapellmeister und persönlicher Assistent an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin gelernt habe, ist unbezahlbar. Durch akribisches Beobachten – ich war ja letztlich schon immer ein Autodidakt –
habe ich von Daniel Barenboim erfahren, wie wesentlich die Körpersprache des Dirigenten den Klang eines Orchesters prägt und wie für das Publikum oftmals kaum wahrnehmbare Änderungen der Gestik und Mimik einen hörbaren Unterschied ausmachen können. Allein an der Hochschule wäre das nie möglich gewesen. Das geht nur durch „Learning by Doing“. Insofern war Daniel Barenboim für mich eine „Walking Inspiration“.

top: Ursprünglich haben Sie ja zunächst Gesang studiert, möglich wäre auch eine
Karriere als Bariton gewesen. Wie kam es zum Wechsel ins Dirigentenfach?

Ettinger: Das hat sich rein zufällig ergeben. Die Israeli Opera in Tel Aviv suchte seinerzeit einen Chordirektor. Der damalige Generalmusikdirektor der Oper, Asher Fisch, fragte mich, ob ich mir das nicht vorstellen könnte. Er wusste, dass Dirigieren mein Hobby ist und ich auch Erfahrung mit Chören hatte. Ich habe Asher Fisch zugesagt, den Job zu übernehmen – unter der Bedingung, auch sein Assistent als Kapellmeister zu sein, um das Dirigieren richtig zu lernen. Gott sei Dank ist er dieses Risiko eingegangen. Er hat mir auch alle meine Fehler verziehen.

top: Welche Fehler haben Sie als Dirigent gemacht?

Ettinger: Ich war manchmal vielleicht ein wenig zu frech, zu streng oder zu oberlehrerhaft. Es ist für mich immer spannend, das erste Mal vor einem Orchester zu stehen und zu sehen, welche meiner Vorstellungen umgesetzt werden und welche nicht. Dirigieren hat mit Musik und Psychologie gleichermaßen zu tun. Manchmal entwickelt sich auch eine magische Energie: Man schaut ein Orchestermitglied an und bekommt musikalisch das zurück, was man sich gewünscht hat. Als Sänger denkt man nur an die eigene Stimme. Als Dirigent arbeitet man dagegen teilweise mit über 100 Menschen gleichzeitig.

top: Haben Sie einen Lieblingskomponisten?

Ettinger: Es sind gleich drei: auf der einen Seite Mozart, auf der anderen Seite Wagner – und zwischendrin Puccini.

top: Ihr Vertrag in Stuttgart läuft bis 2023. Welche größeren Projekte stehen bis dahin an?

Ettinger: Wir wollen zum Beispiel unsere mit Hänssler Classic begonnenen CD-Einspielungen fortsetzen. Unsere jüngste Aufnahme vereint dabei Tschaikowskys 5. Sinfonie und Rachmaninoffs 1. Klavierkonzert. In den nächsten Jahren wollen wir noch mit allen weiteren Sinfonien von Tschaikowsky und den Klavierkonzerten Rachmaninoffs ins Studio gehen. Auf der
Konzertagenda stehen außerdem große symphonische Werke mit Chor, darüber hinaus planen wir weitere konzertante Aufführungen bekannter Opern.

top: Stehen Oper und Konzert bei Ihnen gleichberechtigt nebeneinander?

Ettinger: Ich liebe beide Gattungen gleichermaßen. Meine Seele gehört dem The-
ater, aber ich bringe diese Seele auf die symphonische Bühne.

top: Wenn Sie ein Orchester der Welt wählen dürften: Wessen Dirigent würden Sie gerne mal sein?

Ettinger: Da fällt mir kein Orchester ein. Außerdem fühle ich mich in Stuttgart
äußerst wohl, ich könnte mir also auch eine weitere Verlängerung über 2023 hinaus vorstellen. Daniel Barenboim hat einmal zu mir gesagt: „Wenn Du mit Deinem eigenen Orchester intensiv arbeitest, wirst Du – selbst wenn es nicht zu den Top-Orchestern der Welt zählt – weit bessere Erfolge erzielen als ständig bei vermeintlich hochkarätigen Orchestern zu gastieren.“ Das habe ich mir zu meiner Devise gemacht und bin bisher sehr gut damit gefahren.